…und wie kann uns hier die Gehirnforschung helfen?
Liebe Kundinnen & Kunden,
liebe Geschäftspartnerinnen & Geschäftspartner,
liebe Freunde!
Unternehmen sind geprägt von ständigen Veränderungsprozessen. In immer kürzeren Abständen müssen immer schnellere Entscheidungen getroffen und umgesetzt werden. Diese Entwicklung hat dazu geführt, dass viele Unternehmen ihre gesamte Organisationsstruktur diesem Beschleunigungsprozess angepasst und alle unternehmerischen Abläufe in Zielvorgaben, Arbeitsanweisungen, Richtlinien und Ablaufplänen geregelt haben, um möglichst viele Quellen für Fehlentscheidungen auszuschalten. Dennoch sind die Ergebnisse nicht zufriedenstellend. Mitarbeiter sind oft unzufrieden und demotiviert, Führungskräfte halten dem Druck nicht mehr stand, und psychische Erkrankungen wie Stress, Burnout und Depression nehmen kontinuierlich zu.
Aber wie kann es dazu kommen, wenn man doch alles richtig gemacht hat? Genau hier liegt die Ursache. Führungskräfte machen zwar das, was sie machen, in den meisten Fällen richtig, aber sie machen nicht das Richtige. Damit ist gemeint, dass sie ihre Entscheidungen, gemessen an den Zielvorgaben, Arbeitsanweisungen, Richtlinien und Ablaufplänen, zwar richtig getroffen haben, aber der wichtigste Faktor, nämlich der Mensch, auf der Strecke geblieben ist. Führung beschränkt sich also nicht nur auf die Umsetzung von Anweisungen von oben nach unten.
Führung bedeutet in erster Linie die Anwendung von Fähigkeiten im Umgang mit Menschen.
Aber wie sehen diese Fähigkeiten aus? Was muss ich als Führungskraft tun, damit Mitarbeiter motiviert und zufrieden sind, und wie bekomme ich alles mit meinen eigenen Motiven und Zielen in Einklang?
Auf diese und viele andere Fragen, die im Zusammenhang mit Führung und Motivation wichtig sind, gibt uns die Gehirnforschung erstaunliche Antworten. Hierbei sind es vor allem vier Systeme des menschlichen Gehirns, die wir uns näher anschauen und aus denen wir Erkenntnisse für die Führung und Motivation von Mitarbeitern erlangen wollen. Bei diesen vier Systemen handelt es sich um folgende:
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das Belohnungssystem – der Entstehungsort für Leistung
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das Emotionssystem – die Bewertungszentrale der Reize
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das Erinnerungssystem – die Quelle für Erwartungen
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das Entscheidungssystem – die oberste Kommandozentrale
Diese vier Systeme sind es, die hauptsächlich dafür verantwortlich sind, ob und in welchem Umfang Führung und Motivation von Mitarbeitern gelingt.
Führung und Motivation ist daher vor allem eine Frage, mit welchen Instrumenten und Maßnahmen man diese vier Systeme aktiviert bzw. so gestaltet, dass sie das gewünschte Ergebnis hervorbringen. Bevor wir uns die Maßnahmen und Instrumente für die Aktivierung und Gestaltung der vier Gehirnsysteme anschauen, müssen aber zwei Voraussetzungen erfüllt sein, ohne die alles Weitere keinen oder nur einen geringen Sinn macht. Diese beiden Voraussetzungen sind folgende:
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die Einzigartigkeit des Gehirns muss anerkannt sein, und
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die Vorbildfunktion der Führungskraft muss erfüllt sein.
Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, werden die Instrumente und Maßnahmen zur Aktivierung und Gestaltung der Gehirnsysteme greifen. Aus diesem Grund werden wir uns als Nächstes diese beiden Voraussetzungen näher anschauen.
Kein Gehirn gleicht dem anderen
Die Persönlichkeit eines Menschen ist neurowissenschaftlich gesehen das Spiegelbild seines neuronalen Netzwerks. Dies ist auch der Grund dafür, dass jede Handlung, jede Entscheidung, jede Aussage und jede Emotion das Ergebnis dieses individuellen Netzwerkes ist. Dies für sich zu erkennen und bei anderen anzuerkennen, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Führung und Motivation. Für die Praxis bedeutet dies, dass man die eigene Wahrnehmung und Meinung nie als die einzige Wahrheit und Wirklichkeit sehen sollte. Vor allem in Meetings und Besprechungen ist diese Erkenntnis sehr wichtig und sie erklärt, warum die Standpunkte der Teilnehmer oft sehr unterschiedlich sind und Diskussionen oft ergebnislos verlaufen.
Was aber ist, wenn ich als Führungskraft die Meinung, den Standpunkt oder das Verhalten eines Mitarbeiters nicht akzeptieren kann und eine Änderung erreichen möchte? Die Chance liegt in der Plastizität des Gehirns. Entgegen jahrzehntelanger Annahmen, ist das Gehirn nämlich keineswegs zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig entwickelt, sondern kann sich ein Leben lang weiterentwickeln und verändern. Diese Fähigkeit, nämlich die Veränderbarkeit unseres Gehirns, wird aber vor allem in der Wirtschaft weitestgehend unterschätzt. Der Normalfall ist, dass Mitarbeiter eingestellt, geführt und motiviert werden auf der Basis dessen, was und wie sie sind, oder zu sein scheinen. Viel wichtiger wäre aber, danach zu fragen, was aus diesen Mitarbeitern einmal werden könnte, wenn man ihnen die Chance gäbe, sich zu entwickeln, neue Erfahrungen zu machen und zu lernen.
Führen bedeutet daher: die Einzigartigkeit jedes Mitarbeiters zu akzeptieren, die individuellen Potentiale zu entdecken, sie fördern und ausbauen.
Dies ist aber nur die erste Voraussetzung für die erfolgreiche Führung und Motivation von Menschen. Die zweite Voraussetzung ist, dass Führungskräfte ihre Vorbildfunktion erfüllen. Erst wenn auch diese Voraussetzung gewährleistet ist, werden die Instrumente und Maßnahmen, mit denen wir die bereits erwähnten vier Gehirnsysteme aktivieren und gestalten können, ihren Zweck erfüllen.
Führen bedeutet Vorbild sein
Wie wir bereits erfahren haben, verfügt das menschliche Gehirn über eine hohe Plastizität. Es kann sich also ein Leben lang verändern und entwickeln. Dies ist auch notwendig, damit lebenslang Lernprozesse und Verhaltensänderungen überhaupt stattfinden können. Die Frage ist nur: Wie erreiche ich als Führungskraft bei meinen Mitarbeitern die Bereitschaft, Neues zu lernen bzw. sich zu verändern? Neben all den Aspekten, die Sie im Folgenden erfahren werden, und auch neben all den Erkenntnissen der Gehirnforschung, die wir bereits im Thema „Die Kunst der Verhaltensänderung »“ kennen gelernt haben, ist die Vorbildfunktion das stärkste Instrument, um Inhalte zu vermitteln oder Verhalten zu ändern. Durch Abschauen und Nachahmen haben wir unsere komplette Muttersprache erlernt. Durch das Verhalten unserer Eltern und Lehrer hat sich in unserer Kindheit unser soziales und kulturelles Wertesystem entwickelt. Und im Berufsleben sind es die Führungskräfte, von denen wir am schnellsten und effektivsten lernen können – und zwar positiv wie negativ.
Wenn es also darum geht, neue Wissensinhalte zu vermitteln, Verhalten bei Mitarbeitern zu ändern oder die Bereitschaft zu entwickeln, neue Wege zu gehen, dann ist die Vorbildfunktion eine unbedingte Voraussetzung.
Das Belohnungssystem – der Entstehungsort für Leistung
Das Belohnungssystem des menschlichen Gehirns ist eine komplexe Struktur, zu der verschiedene Areale des Gehirns zählen. Vor allem folgende Areale spielen beim Belohnungssystem eine wichtige Rolle: der Nucleus accumbens, das ventrale tegmentale Areal des Mittelhirns und die präfrontale Region der Großhirnrinde. Was wir erleben oder erleben wollen, wird vom Nucleus accumbens als Teil des limbischen Systems nach dem Lustprinzip bewertet. Verspricht ein Gedanke, wie z.B. der Gedanke an ein leckeres Essen lustvoll und angenehm zu werden, wird im ventralen tegmentalen Areal des Mittelhirns der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet. Dieser Botenstoff dockt dann an den Rezeptoren der Synapsen der präfrontalen Großhirnrinde an, wo unser Bewusstsein sitzt. Hier entsteht nun eine bewusste Glückserwartung, und wir entscheiden uns bewusst zu essen. Meldet die Großhirnrinde und damit unser Bewusstsein nun tatsächlich positive Erlebnisse, z.B. den guten Geschmack des Essens an das ventrale tegmentale Areal des Mittelhirns zurück, schließt sich die sogenannte „ventrale Schleife“. Als Folge wird Serotonin ausgeschüttet. Serotonin wirkt beruhigend und befriedigend, es sorgt für Harmonie und bringt uns schließlich zu der Erkenntnis: „Ich bin glücklich.“
Wird also das Belohnungssystem aktiviert, überkommt uns ein Gefühl des Wohlbefindens und somit ein Zustand, den wir gerne dauerhaft beibehalten würden. Glücklicherweise lässt sich dieser Zustand aber nicht dauerhaft aufrechterhalten, denn wäre das der Fall, würde uns jeder Anreiz für weitere Aktivitäten fehlen (…).
Die dauerhafte Aktivierung des Belohnungssystems überbietet alles, was es an natürlichen Überlebenstrieben gibt. Der Zweck des Belohnungssystems im Gehirn ist folglich, durch ein Wechselspiel zwischen Aktivierung und Deaktivierung den Anreiz für weitere Aktivitäten zu erhalten. Diese Erkenntnis hat im Zusammenhang mit Führung und Motivation eine enorme Bedeutung. Zur Aktivierung des Belohnungssystems bei Mitarbeitern werden in vielen Unternehmen Geschenke, Incentives, Zusatzeinkünfte u.ä.m. eingesetzt. Dagegen ist auch zunächst nichts einzuwenden. Stehen diese Belohnungen aber im Zusammenhang mit dem Erreichen von bestimmten Zielen in einem vorgegebenen Zeitraum, führen sie zur Gewöhnung, und ihre Wirkung verpufft. In diesen Fällen hilft dann nur noch eins: Beim nächsten Mal bitte mehr davon! Erfolgen Belohnungen hingegen unerwartet und unangekündigt, tritt der Gewöhnungseffekt im Belohnungssystem nicht ein.
Oft wird auch die Wirkung von teuren oder wertvollen Belohnungen überschätzt und die Wirkung von kleineren und kostengünstigeren Belohnungen unterschätzt. Ein nettes Wort, ein sympathisches Lächeln können das Belohnungssystem im Gehirn genauso aktivieren, wie kleine Überraschungen oder eine unerwartete Anerkennung. Dass dies so ist, konnte inzwischen in zahlreichen Experimenten und unter Einsatz bildgebender Verfahren nachgewiesen werden. Aber auch andere Studien zeigen, dass sich unser Belohnungssystem schon durch kleine positive Stimulierungen aktivieren lässt und eine Verhaltensänderung bewirkt. In einer Gruppe von Probanden gab man der einen Hälfte die Aufgabe, negative Begriffe wie z.B. Misserfolg, Unglück oder Trauer zu lesen. Die andere Hälfte der Probanden hingegen bekam Begriffe wie Erfolg, Glück oder Freude zu lesen. Anschließend forderte man beide Gruppen auf, das Gebäude durch das Treppenhaus zu verlassen. Es ist wohl nicht schwer zu erraten, welche Gruppe schneller war. Die Gruppe mit den positiven Begriffen verließ das Gebäude wesentlich schneller und dynamischer als die andere Gruppe. Auch wenn dieses Ergebnis banal erscheint, so zeigt es doch, dass Führungskräfte, die meinen, dass eine emotionsfreie Kommunikation der beste Weg sei, Mitarbeiter zu führen, auf dem Holzweg sind.
Auch dürfte außer Frage stehen, dass die Wirkung eines sympathischen Lächelns oder eines freudigen Gesichtsausdrucks des Chefs als Aktivierung des Belohnungssystems durch keine Email ersetzt werden kann. Eine weitere Erkenntnis, die auf unser Belohnungssystem zurückgeht, ist, dass wir uns altruistisch verhalten. Das bedeutet, dass Menschen sozialen Regeln folgen, auch wenn sie keinen Gewinn erzielen oder sogar Nachteile in Kauf nehmen müssen. Was dies konkret bedeutet, wird deutlich, wenn wir uns das sogenannte Ultimatum-Spiel anschauen:
Bei diesem Spiel gibt es einen Spielleiter und zwei Spieler. Der Spielleiter gibt nun dem Spieler A einen bestimmten Geldbetrag und bittet ihn, dem Spieler B davon einen Anteil anzubieten. Nimmt Spieler B das Angebot an, so können beide Spieler den jeweiligen Geldbetrag für sich behalten. Lehnt Spieler B das Angebot von Spieler A ab, geht der gesamte Betrag an den Spielleiter zurück. Rein rational betrachtet müsste Spieler B jedes Angebot von Spieler A annehmen, denn selbst ein Cent wäre mehr als nichts und somit ein Gewinn für ihn. In der Realität sieht es aber anders aus. In dem Moment, wo Probanden, die sich in der Rolle des Spielers B befinden, ein Angebot als unfair einstufen, lehnen diese das Angebot ab, was dazu führt, dass keiner der beiden Spieler etwas bekommt. Dies ist meist dann der Fall, wenn das Angebot unter 40% liegt. Interessant daran ist aber, dass sich bei den Probanden, die sich in der Situation des Spielers B befinden und ein Angebot ablehnen, eine Aktivierung des Belohnungssystems durch Aufzeichnung entsprechender Gehirnaktivitäten nachweisen lässt. Der psychologische Gewinn – „Dem habe ich es aber gezeigt!“ – übertrumpft den eigenen materiellen Verlust.
Altruistisches Bestrafen wird also vom Gehirn belohnt. Für die Praxis können wir hieraus ableiten, wie wichtig der faire Umgang unter Führungskräften und Mitarbeitern ist, denn wirklicher Erfolg entsteht nur dann, wenn bei beiden das Belohnungssystem aktiviert wird, aber nicht durch altruistisches Bestrafen, sondern durch faire und gemeinsam erzielte Erfolge.
Das Emotionssystem – die Bewertungszentrale der Reize
In der Psychologie werden Emotionen als psychische Zustände beschrieben. Wir bekommen jedoch ein besseres Verständnis dafür, was Emotionen sind, wenn wir sie unter neurowissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachten. Aus Sicht der Gehirnforschung sind Emotionen chemische Prozesse des Nervensystems, also Hirnfunktionen, die wir dann z.B. als Wut, Angst, Freude oder Trauer empfinden. Das wohl bekannteste Areal zur Emotionsverarbeitung im menschlichen Gehirn ist die Amygdala, auch Mandelkern genannt. Sie ist Teil des limbischen Systems und mit vielen anderen Strukturen des Gehirns verbunden. Durch diese Verbindungen kommt es einerseits zu einer vermehrten Ausschüttung von Botenstoffen, also Neurotransmittern, und andererseits wird durch diese Verbindungen unser ganzes hormonelles System in Schwung gebracht. So kommt es beispielsweise zu einer vermehrten Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, wenn wir Angst haben, oder zu einer vermehrten Ausschüttung von Dopamin, wenn wir Freude erleben. Auf diese Weise werden eingehende Signale in unserem Gehirn zu Emotionen, und diese wiederum führen zu Erlebnissen. So kann z.B. schon der Anblick eines Fotos ausreichen, um Trauer oder Freude auszulösen, je nachdem, welche Erinnerung wir mit diesem Foto verknüpft haben. Der Hirnforscher Joseph LeDoux sagte einmal:
„Emotionen sind mächtige Motivatoren künftigen Handelns.“
Was er damit meint, ist, dass Emotionen quasi als Bewertungen zwischen Reizen und Reaktionen stehen. Interessant für die Praxis ist daran, dass die Bewertung schon einsetzen kann, bevor die Wahrnehmungssysteme den Reiz vollständig verarbeitet haben. Mit anderen Worten:
Wir fühlen bereits, ob etwas gut oder schlecht ist, bevor unser Bewusstsein im präfrontalen Cortex den Vorgang verarbeitet hat.
Um die Abläufe unseres Emotionssystems noch besser zu verstehen, kommen wir noch einmal auf unser Ultimatum-Spiel zurück. Sie erinnern sich? Hierbei ging es darum, dass ein Spielleiter dem Spieler A einen bestimmten Geldbetrag zur Verfügung stellt und ihn bittet, dem Spieler B davon einen Teil anzubieten. Nimmt Spieler B das Angebot an, fällt den Spielern der jeweilige Betrag zu. Lehnt Spieler B das Angebot ab, fällt der gesamte Betrag an den Spielleiter zurück. Hierbei konnten wir sehen, dass, wenn der Spieler B das Angebot ablehnte, dennoch sein Belohnungssystem aktiviert wurde, weil er den Spieler A altruistisch bestrafen konnte. Was aber passiert, wenn Spieler B das Angebot ablehnt und der Betrag nicht an den Spielleiter zurückgeht, sondern komplett bei Spieler A bleibt? In diesem Fall, so haben die Untersuchungen bestätigt, bleibt das Belohnungssystem von Spieler B inaktiv. Stattdessen zeigen sich Aktivitäten in der Insula, einer Gehirnregion, in der Emotionen wie Ekel oder Empörung ausgelöst werden.
Es gab aber auch Fälle, in denen der Spieler B das Angebot annahm, obwohl er es als unfair empfand, der Spieler B also nach dem Prinzip des homo oeconomicus handelte, weil weniger mehr als gar nichts ist. Bei diesen Probanden wurde das Belohnungssystem überhaupt nicht und die Insula nur schwach aktiviert. Stattdessen zeigten sich Reaktionen im präfrontalen Cortex, wo Emotionen verarbeitet und gesteuert werden. Diese Probanden hatten also sowohl das Gerechtigkeitsgefühl als auch die Abneigung gegen den Mitspieler unterdrückt.
Welche Rückschlüsse können wir daraus für die Praxis ableiten?
Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz oft in Situationen gebracht werden, in denen sie das Gerechtigkeitsgefühl unterdrücken müssen, eine altruistische Bestrafung vermeiden müssen und auch keinen Ekel empfinden können, werden über kurz oder lang Reaktionen entwickeln, wie sie in Situationen der Hilflosigkeit üblich sind. Das bedeutet, diese Menschen werden früher oder später aggressive und/oder panische Reaktionen zeigen.
Wie aber sollte das Emotionssystem angesprochen und aktiviert werden, damit Führung und Motivation funktionieren?
Der Gehirnforscher Joachim Bauer sagte einmal:
„Nichts stimuliert uns so sehr wie der Wunsch, von anderen gesehen zu werden, die Aussicht auf soziale Anerkennung, das Erleben positiver Zuwendung und die Erfahrung von Liebe. Kern aller Motivation ist es also aus neurobiologischer Sicht, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung und Zuwendung zu finden oder zu geben.“
Konkret bedeutet dies, dass alle Ziele, die wir verfolgen, egal ob beruflich oder privat, aus Sicht des Gehirns nur einen einzigen Zweck verfolgen:
Wir wollen zwischenmenschliche Beziehungen erwerben oder erhalten.
Und dieses Streben steht sogar über dem Überlebenstrieb. Diese Erkenntnis mag erfahrenen Psychologen als banal und längst bekannt erscheinen.
Doch was nützt dies, wenn diese Erkenntnis in der Wirtschaft von Führungskräften als unnötige Gefühlsduselei interpretiert und abgetan wird?
Die Hoffnung besteht darin, dass durch die Bestätigung seitens der Neurowissenschaften, die hierfür in den letzten (…) Jahren sehr viele und teilweise sehr aufwendige Untersuchungen durchgeführt haben, ein Umdenkungsprozess in den Köpfen von Führungskräften stattfindet. Schauen wir uns also einmal die Abläufe für die Aktivierung des Emotionssystems aus neurowissenschaftlicher Sicht etwas näher an: Wie wir bereits erfahren haben, sitzen die biologischen Antriebsaggregate sehr zentral im Mittelhirn und stehen mit vielen anderen Arealen des Gehirns in Verbindung. Der „Treibstoff“ für diese Aggregate besteht im Wesentlichen aus einer Mixtur von drei Botenstoffen:
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Dopamin
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Opioide
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Oxytocin
Dopamin erzeugt in uns ein Gefühl des Wohlbefindens und versetzt uns in einen Zustand von Konzentration und Handlungsbereitschaft. „Ich will etwas tun!“
Opioide wirken positiv auf das Ich-Gefühl, die emotionale Stimmung und die Lebensfreude. „Es macht Spaß, etwas zu tun!“
Oxytocin ist eine Art Bindungsstoff, in Fachkreisen auch Sozialkleber genannt, und ist sowohl Ursache als auch Wirkung von Bindungserfahrungen. So konnte z.B. nachgewiesen werden, dass Menschen als Folge einer geschäftlichen Transaktion, in denen ihnen Vertrauen entgegengebracht wurde, erhöhte Oxytocin-Werte aufweisen. „Ich setze mich für die ein, die mich mögen!“
Für die Praxis bedeutet dies:
Wer Menschen nachhaltig führen und motivieren will, muss ihnen die Möglichkeit geben, mit anderen zu kooperieren und Beziehung zu gestalten.
Und ganz nebenbei sorgen die Botenstoffe auch noch für unsere körperliche und geistige Gesundheit. Dopamin sorgt für Konzentration und mentale Energie, Opioide und Oxytocin reduzieren Stress und Angst.
Das Erinnerungssystem – die Quelle für Erwartungen
Wer sind wir? Diese Frage haben sich nicht nur Philosophen gestellt. Eine sowohl einfache als auch geniale Antwort liefert uns der Titel eines bekannten Buches des Psychologen und Hirnforschers Daniel L. Schacter: „Wir sind Erinnerung“. Wenn wir unser Leben beschreiben sollen, so ist dies die Summe der Erlebnisse und Erfahrungen, an die wir uns bewusst oder unbewusst erinnern. Aber an was erinnern wir uns? Wir erinnern uns an alles, was für uns von Bedeutung ist, und was für uns von Bedeutung ist, ist wiederum das, was von unserem Belohnungs- und Emotionssystem als bedeutsam bestimmt wurde. Im Umkehrschluss bedeutet dies:
Je stärker ein Erlebnis oder eine Erfahrung an Belohnungen oder Bestrafungen bzw. an positive oder negative Emotionen geknüpft ist, desto besser behalten wir es in Erinnerung.
Dies wird auch durch zahlreiche Untersuchungen belegt, die uns zeigen, dass Inhalte, die bei gleichzeitiger Aktivierung des Belohnungs- und/oder Emotionssystems vermittelt werden, besser erinnert werden. Es kommt also zu einer Art privilegierter Abspeicherung, die einen leichteren Zugriff ermöglicht.
Aber warum ist das wichtig im Zusammenhang mit Führung und Motivation?
Wie man inzwischen weiß, werden Erinnerungen und Erwartungen in denselben Hirnregionen erzeugt.
Alles, was wir erwarten, baut also immer auf Erinnerungen aus der Vergangenheit auf.
Wenn also Mitarbeiter z.B. die Erfahrung gemacht haben, dass versprochene Zusagen nicht eingehalten werden, werden sie auch für zukünftige Zusagen die Erwartung haben, dass diese ebenfalls nicht eingehalten werden. Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse im Zusammenhang mit Erinnerungen und Erwartungen spielen aber auch in anderen Bereichen der Führung und Motivation eine wichtige Rolle. Wir alle wissen, wie schwierig es oft bei Veränderungsprozessen ist, neues Wissen zu akzeptieren bzw. anderen zu vermitteln und das bisherige Wissen über Bord zu werfen. Der Grund ist auch hier, dass Erwartungen immer auf Erinnerungen basieren. Der Rahmen der Erwartungen ist also durch die Erinnerungen vorgegeben, alles andere ist neu und überraschend.
Die Folge ist, das Neue macht oft unsicher und ängstlich und führt zu Ablehnung, während das Bekannte Sicherheit und Geborgenheit vermittelt hat.
Wenn es also darum geht, bei einem Menschen Neues zu verankern, ist es wichtig, das Neue mit etwas Bekanntem zu verbinden.
Erinnerungen und Erwartungen stehen also immer in einem direkten Zusammenhang. Berücksichtigt man diese Erkenntnis bei der Führung und Motivation von Mitarbeitern, lässt sich vieles besser gestalten und umsetzen. Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt, der bei Erinnerungen eine große Rolle spielt und der für Führungskräfte eine sehr wirkungsvolle Chance beinhaltet:
Erinnerungen verändern sich!
Die meisten Menschen denken, dass Erinnerungen immer wieder in den gleichen Arealen abgelegt und später unverändert wieder abgerufen werden. So wie wenn man abends seine Schuhe auszieht und am nächsten Morgen dieselben Schuhe am selben Ort wiederfindet. Das ist aber nicht so. Erinnerungen verändern sich im Laufe der Zeit, werden neu bewertet oder gewinnen bzw. verlieren an Bedeutung. Menschen sprechen gern vonder guten alten Zeit. Bei genauer Betrachtung waren diese Zeiten aber oft keineswegs gut. Dennoch entsteht der Eindruck, weil viele Dinge aus dieser Zeit inzwischen an Bedeutung verloren haben oder einen anderen Stellenwert eingenommen haben. Ähnlich ist es mit der Aussage „Die Zeit heilt alle Wunden“. Auch hier werden Erinnerungen im Laufe der Zeit emotional neu bewertet oder bekommen eine andere Bedeutung. Vieles vergessen wir aber auch einfach, weil unser Gedächtnis die Erinnerungen nur so lange speichert, wie sie ihm wertvoll und brauchbar erscheinen, was aber keineswegs bedeutet, dass die Erinnerung völlig gelöscht ist.
Was damit gemeint ist, kann man sich am besten vorstellen, wenn man das Gehirn mit einem Dorf vergleicht, das eine neue Umgehungsstraße bekommen hat. Die alte Straße durch den Ortskern ist zwar noch vorhanden, aber sie wird nicht mehr benutzt. Für die praktische Führungsarbeit bedeutet dies:
Es ist nie zu spät, für unsere Mitarbeiter eine neue Umgehungsstraße zu bauen, auf der sie besser und schneller ans Ziel gelangen.
Das Entscheidungssystem – die oberste Kommandozentrale
Das Zentrum unseres Entscheidungssystems liegt im präfrontalen Cortex, also im vorderen Bereich unseres Gehirns. Hier laufen alle Informationen aus dem Belohnungssystem, dem Emotionssystem und dem Erinnerungssystem zusammen. Gleichzeitig ist der präfrontale Cortex auch der Sitz unserer sozialen Normen und Werte. Dass diese Normen und Werte dort ihren Sitz haben, weiß man u.a. durch Patienten, bei denen durch einen Unfall der präfrontale Cortex betroffen war. Schäden in diesem Bereich führten zu Veränderungen der Persönlichkeit, ohne dass wesentliche Defizite bei der Intelligenz auftraten. Unter Berücksichtigung unserer sozialen Normen und Werte und unter Berücksichtigung der Informationen aus den anderen drei Systemen, werden hier nun Entscheidungen getroffen, Strategien entwickelt und Pläne entworfen. Der präfrontale Cortex ist also die oberste Kommandozentrale bei allem, wie wir denken, entscheiden und handeln. Dennoch ist es immer ein Wechselspiel zwischen allen vier Systemen, denn ohne die anderen drei wäre das Entscheidungssystem ziemlich hilflos und unfähig. Es wüsste nämlich weder, was es will, warum es etwas will, und schon gar nicht, wie es das erreichen soll.
Wie die vier Systeme ineinandergreifen, macht uns folgendes Beispiel deutlich:
Kommt im Belohnungssystem z.B. der Wunsch auf, ein bestimmtes Produkt zu kaufen, so wird i.d.R. der Kauf nicht gleich vollzogen, sondern man wirft erst noch einen Blick auf den Preis. Die Verarbeitung der Preisinformation findet in der Insula, unserem Schmerzzentrum statt. Ist der Schmerz kleiner als das vom Belohnungssystem erzeugte Wohlgefühl, kaufen wir. Ist der Schmerz hingegen größer als das vom Belohnungssystem erzeugte Wohlgefühl, kaufen wir nicht. Oder doch? Manchmal kaufen wir trotzdem, weil wir durchaus in der Lage sind, uns so viele rationale Begründungen auszudenken, die den Kauf rechtfertigen, dass unser Belohnungssystem ein so starkes Wohlgefühl vermittelt, dass es den Schmerz übertrumpft – auch dann, wenn die Begründungen nichts mit Tatsachen zu tun haben. Ähnliche Phänomene sind auch zu beobachten, wenn es um kurzfristige und langfristige Belohnungen geht.
Was unser Belohnungssystem bevorzugt, sind kurzfristige Belohnungen.
Lieber häufig wenig als einmal viel.
Unser Entscheidungssystem hingegen bevorzugt meist lieber eine einmalige große Belohnung,
was auch durch viele neuro-ökonomische Studien belegt werden konnte. Befragt man Probanden, ob sie eine kurzfristige Belohnung sofort oder lieber eine große Belohnung später haben möchten, so entschieden sich fast alle für die große Belohnung später. Im Experiment selbst entschieden sich dann aber die meisten für die kurzfristige Belohnung.
Das Belohnungssystem ist also oft stärker als die Vernunft, also das Entscheidungssystem.
Auch das hat praktische Auswirkungen, wenn es um Führung und Motivation geht, denn die Studien zeigen, dass es durchaus effektiver ist, eine kleine wiederkehrende Gehaltserhöhung zu gewähren als eine einmalige hohe Prämie am Jahresende.
Ein weiteres Thema, das mit unserem Entscheidungssystem in Verbindung steht, ist das Thema Ehrlichkeit. Ehrlichkeit ist im Wertesystem der meisten Menschen sehr hoch eingestuft, doch wenn es um die praktische Umsetzung geht, sieht die Welt oft anders aus. Noch ist die Wissenschaft nicht in der Lage, endgültig zu begründen, warum sich Menschen in bestimmten Situationen ehrlich oder unehrlich verhalten. Viele Tests zeigen aber, dass Unehrlichkeit wenig mit der Höhe des Risikos, ertappt zu werden, zu tun hat und auch gar nicht unbedingt mit der Höhe des damit erhofften Vorteils verbunden ist. Man kann daher davon ausgehen, dass die Bereitschaft, unehrlich zu sein, etwas mit der Person oder Institution zu tun hat, der man den Schaden zufügt, bzw. in welchem Umfang die Person oder Institution in der Lage ist, den Schaden zu verkraften.
Für die Praxis ist es daher wichtig, Anonymität zu vermeiden und stattdessen Mitarbeitern und Abteilungen Möglichkeiten zu bieten, dass sie einander zuarbeiten oder Projekte gemeinsam abwickeln können. Je enger Menschen miteinander arbeiten und je häufiger sie miteinander zu tun haben, desto geringer ist die Bereitschaft zu lügen und zu betrügen.
Schließen will ich mit einem weisen Zitat von Henry van Dyke, einst amerikanischer Schriftsteller, Pädagoge und Geistlicher:
„Nutze die Talente, die Du hast. Die Wälder wären sehr still, wenn nur die begabtesten Vögel sängen.“
In diesem Sinne alles Liebe, alles Gute, und bleiben Sie weiterhin zuversichtlich, neugierig und vor allem gesund.
Herzlichst, Ihr Frank Nussbaum
Quelle: AFNB Akademie für neurowissenschaftliches Bildungsmanagement
Bild: Natali_ Mis (Shutterstock)
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